Vom Wilden Mann
Was die Eferdinger Bürger auch unternahmen, es gelang nicht das Gesindel zu vertreiben. Schließlich musste sich der Stadtrat dem Unvermeidlichen beugen. Schweren Herzens wurde beschlossen, die Tore zu öffnen und die Stadt den Feinden zu übergeben.
Ein Schneider wollte sich damit nicht abfinden. Er bat den Stadtrat um einen Tag Frist. Die nutzte er um mit seinen Gehilfen einen riesigen Strohmann zu bauen. Mit Fellen bekleidet, die Arme erhoben, mit langen Krallen an den Fingern, am Kopf mächtige Hörner, dazu ein weit aufgerissenes Maul – so erschreckte dieses gewaltige Ungetüm sogar die, die es gebaut hatten. Mit Seilen und Rollen wurde »der Wilde Mann« gegen Abend zum Schaunberger Tor bewegt. Alles in der Stadt war auf den Beinen. Auf das Kommando des Schneiders wurde in Pfeifen geblasen, Pfannen geschlagen, mit Blechbüchsen gescheppert, auf Töpfen getrommelt, Trompeten erklangen. Dazu brüllten, schrien und kreischten alle so laut sie konnten.
Selbst die Belagerer vor der Stadt wurden auf den Lärm aufmerksam. Sie kamen zur Stadtmauer um zu sehen, was denn da vor sich ging. Langsam richteten die Eferdinger den scheußlichen Strohmann auf. Als seine weit aufgerissene Fratze im Halbdunkel der Dämmerung hinter der Stadtmauer zum Vorschein kam, packte die Belagerer das Grauen. Entsetzt stürmten sie davon.
Die Eferdinger aber ließen ihren »Helden« hochleben. Als Träger des Stadtwappens ist der Wilde Mann selbst heute noch zu sehen.
© Helmut Wittmann