Über die Kippe springen
Dort in den felsigen Höhlen hausten Bären und Wölfe. Wer den Weg also meiden konnte, mied ihn. Denn niemand wollte von den hungrigen Bestien mit Haut und Haaren verschlungen werden.
Einmal wurde der Schlosskaplan zu einem Sterbenden gerufen. Er dachte weder an die Gefahren, die da lauerten, noch fürchtete er sich vor der bedrohlichen Schlucht. Er brachte dem Todkranken die letzte Wegzehrung und verrichtete die Sterbegebete. Dann machte er sich auf den Heimweg.
Plötzlich hörte er ein Röcheln und ein Schnaufen. Ein mächtiger Bär war hinter ihm her! Geschwind sprang er über Wurzeln und Steine, über Felsen und Baumstämme. Er lief so schnell, wie ihn seine Kutte laufen ließ. Doch auf einmal war der Weg zu Ende. Der Kaplan stand vor einem Abgrund. Von dort ging es nur mehr steil in die Tiefe. Kurz entschlossen wagte er den Sprung. Und tatsächlich: Er kam heil auf der anderen Seite an. Der Bär jedoch war blind vor Hunger und viel zu schwer für so einen weiten Sprung. Er stürzte in die tiefe Schlucht.
Vor Schrecken hatte der Kaplan die Sprache verloren. Da gelobte er, für immer als Einsiedler in der Schlucht zu leben, wenn er sie wieder erlangen würde. Gott erhörte seine Bitte. Der Felsen aber heißt seitdem der „Bärensprung“.
© Helmut Wittmann